"Gigantische Raketen bringen Blöcke auf Umlaufbahnen,
die zu Stationen zusammengebunden werden oder zu Planeten fliegen."

Sergej Koroljow zur ersten Kosmonautengruppe, 1960


Und Sergej Koroljow?
Was macht er in der Zwischenzeit? Natürlich ist er nicht untätig.
Wir blenden zurück:

Die Regierung der UdSSR forderte in einem Beschluss vom 23. Juli 1960 einen neuen Raketentyp für Nutzlasten, die von schweren zivilen und militärischen Satelliten bis hin zu großen unbemannten und bemannten Raumschiffen für Flüge zum Mond, ja sogar zur Venus und zum Mars (!) reichen.
Das Genie arbeitete also wie sein Kontrahent Wladimir Tschelomej an Entwürfen für eine neue Trägerrakete...

die Nositel = N-Serie
("Nositel" steht im Russischen für "Träger")

Lange vor Präsident Kennedys Selbstverpflichtung hatte Sergej Koroljow seinen Blick auf fernere Ziele gerichtet: Er will zum Mars! Pläne für ein Raumschiff liegen schon lange in seinen Schreibtischschubladen. Allein, bisher fehlt ihm die geeignete Trägerrakete.


Es ist verblüffend festzustellen,
wie sich auch hier die Zukunftsvisionen
von Sergej Koroljow und Wernher von Braun geähnelt haben.

OKB-1 wird im Juli beauftragt, ein Konzept für eine neue Trägerraketenserie zu entwickeln, die N-Serie, eine Familie von Trägerraketen, die eine Vielzahl der geplanten Weltraumprojekte abdecken kann. Unter anderem soll die neue Trägerrakete eine 40-50 Tonnen schwere Nutzlast in eine niedrige Erdumlaufbahn transportieren.
Wir wollen daran erinnern:
1962 betrug die obere Grenze für eine ins All zu transportierende Nutzlast noch 7 Tonnen!
Man gibt Koroljow drei Jahre Zeit, dann hat 1965 der erste Start einer N1-Rakete zu erfolgen.


Wer weiß, wie lange Vorlaufzeiten Raketenentwicklungen normalerweise haben,
mag ermessen, unter welchem äußeren Druck Sergej Koroljow gestanden hat!

Für noch schwerere Nutzlasten zwischen 60-80 Tonnen soll eine Nachfolgeversion N 2 in den Jahren 1963-70 konstruiert werden.
Über Arbeitsmangel kann sich DER CHEFKONSTRUKTEUR also nicht beklagen; dieses Wort dürfte in seinem Wortschatz nicht vorgekommen sein.
1961 bleibt es jedoch zunächst nur bei Konzeptentwürfen.
"Dank" Walentin Tschelomej und dessen guten Beziehungen zum Kreml (s.o.). Denn dessen LK-1- Programm einer bemannten Mondumkreisung hat die oberste Priorität erhalten.

Sergej Koroljow schmort ...

...nicht allzu lange, denn sein oberster Chef hat große Pläne:
Nikita Chruschtschow schwebt eine, für damalige Verhältnisse gigantische, fünfundsiebzig Tonnen schwere militärische Raumstation OS-1 vor (im Bild mit drei angekoppelten SOJUS-Raumschiffen und Solarzellenflächen), auch "ZVESDA" genannt, die mit Nuklearwaffen ausgerüstet ist:

Abb. 9-0

Militärische Raumstation
OS-1

OS-1 - Militärische Raumstation der UdSSR (nie realisiert)
So wird die UdSSR der amerikanischen Atomwaffenmacht Paroli bieten können! Am 24. September 1962 erhält Koroljow das Ja für die Entwicklung einer diesem Zwecke und nur diesem Zwecke (!) entsprechenden aufgerüsteten, dreistufigen N1-Version.
Nun, Koroljow wird nicht dumm gewesen sein,
im Stillen wird er darauf geachtet haben,
dass die N1 auch andere Nutzlasten befördern kann
und für andere Ziele im Weltraum ausgerichtet ist.

Der N2-Plan wird kurz darauf gestrichen, die N1-Rakete selbst soll nun auch für schwerere Nutzlasten bis 75 t konzipiert werden.

Ein vorläufiger, eng gestrickter Fahrplan sieht so aus:
Die Tests der dritten Stufe sollen bis Ende 1964 abgeschlossen sein; die der ersten und zweiten Stufe bis Mitte 1964, die Erprobung sämtlicher Triebwerke im ersten Quartal 1965. Den Abschusskomplex in Baikonur hofft man Ende 1964 fertiggestellt zu haben; der erste Start ist dann für das Jahr 1965 anvisiert.
Koroljows größtes Problem bei der Konstruktion der Trägerrakete ist der Antrieb.
Vier Konstruktionsbüros arbeiten zunächst zeitgleich an der Entwicklung neuer Triebwerke:
Gluschkos OKB-456 und Kusnezows OKB-276 beschäftigen sich mit Weiterentwicklungen bewährter Kerosin/O2-Kombinationen, die Büros von Isajew Ljulka mit der vielversprechenden neuen Brennstoffkombination Flüssigp/O2 für die oberen Raketenstufen. Der Experte und erste Ansprechpartner, weil bester Fachmann: Walentin Gluschko, hat sich aber, wie wir schon wissen, Koroljows Widersacher Tschelomej angeschlossen.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist:
Bis zu diesem Zeitpunkt stammten die Triebwerke ALLER entwickelten Trägerraketen der UdSSR aus dem Planungsbüro Gluschkos!
Auch die Wasserstoff-Brennstofftechnologie ist vorher hauptsächlich in Gluschkos OKB-456 erforscht worden, und der bezeichnet dieses Verfahren als ungeeignet für Raketentriebwerke.


– was sich als falsch erweisen wird!


Koroljow ist dagegen überzeugt vom Durchbruch der H2/O2-Technologie.
Die damit beschäftigten Wissenschaftler Isajew und Ljulka müssen ihm jedoch mitteilen, dass sie in der verfügbaren Zeit mit ihren Forschungen unmöglich fertig werden.
Auch um ein H2/O2-Triebwerk von seinem eigenen Büro OKB-1 entwickeln zu lassen, fehlt DEM CHEFKONSTRUKTEUR mitten im Wettlauf mit den Amerikanern die Zeit.
Er muss schweren Herzens auf den bewährten Brennstoff Kerosin zurückgreifen.
Doch wer plant und baut die Triebwerke?

Sergej Koroljow muss sich an den legendären Triebwerksingenieur Nikolai Kusnezow, wenden. Er verfügt über das einzig geeignete Versuchs-Konstruktionsbüro:
OKB-276 in Kuibyschew mit 28 Fabriken und 208 Abteilungen.


dort ist auch der SOJUS-Booster gebaut worden


Bisher hat Kusnezow nur Flugzeugmotoren entwickelt (z.B. für die TUPOLEW TU-144 ...)! Raketenantriebstechnik, das ist Neuland für ihn.
Außerdem ist Kusnezows OKB-276 dem Luftfahrtministerium unterstellt, also nicht dem sonst für Trägerraketen zuständigen Allgemeinen Maschinenbauministerium; was heißt, dass es komplizierter werden wird, Gelder in das Projekt fließen zu lassen und Prioritäten abzustecken.
Doch Koroljow hat keine andere Wahl. Er beauftragt deshalb Kusnezow 1963 mit der Entwicklung sämtlicher Triebwerke für die N1-Trägerrakete.

In der Tat, die finanzielle Unterstützung auf hohem Level kommt nur sehr langsam in Gang. Nikita Chruschtschow, aus der Landwirtschaft kommend und deshalb ein Freund der Agrarpolitik, ist wahrlich kein Gönner der Raumfahrt. Bis dahin muss sich Kusnezow an das wohlbekannte Prinzip halten:

Wie baue ich die größte Maschine mit den geringsten Kosten?

In der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit, so Kusnezow, kann er "nur" ein mit der bewährten Kombination Kerosin/O2 angetriebenes NK-15-Triebwerk mit vergleichsweise geringer Leistung konstruieren. Demzufolge wird die neue Trägerrakete eine Vielzahl dieser Triebwerke brauchen , um die geforderte Leistung beim Start zu erzielen - in der Endversion werden es dreißig Stück werden.
In Kapitel 16 werden wir detaillierter auf die technischen Einzelheiten eingehen.


Abb. 9-1

N1-Entwurf
von 1962


Abb. 9-1  N1-Entwurf von 1962


Abb. 9-2

N1-Entwurf
von 1964


Abb. 9-2 N-1 Entwurf von 1964


Abb. 9-3

N1-Stufe mit 30 der von Kusnezow entwickelten NK-15-Triebwerke

6 zentral gebündelt,
24 weitere konzentrisch dazu außen angeordnet



Abb. 9-3 Komplex der ersten N1-Stufe mit 30 der von Kusnezow entwickelten NK-15 Triebwerke: 6 zentral gebündelt, 24 weitere konzentrisch dazu angeordnet

 



Abb. 9-4

N1-Modell-
bausatz
(USA)


Abb. 9-4   N1-Modellbausatz (USA)

Blenden wir nun um in die USA und betrachten auch dort den Fortgang der Trägerraketenentwicklung:



SATURN

Kurz vor Gründung der NASA ist v. Brauns Team aufgefordert worden eine neue schwere Trägerrakete zu entwerfen. Die existierenden sind in der Nutzlastkapazität den sowjetischen Raketen deutlich unterlegen. Ein neues Triebwerk ist zwar in der Planung, kurzfristig jedoch nicht verfügbar.
Wernher v. Braun schlägt deshalb ein Konstruktionsprinzip vor, welches von Schiffs- und Flugzeugmotoren her bekannt ist:
Hat man keine neuen Motoren, bündelt man die alten und erzielt so eine höhere Leistung. Gesagt getan:
Das Bündelungsprinzip soll an dem Vorlaufsmodell, der SATURN I erprobt werden. Nur 10 Millionen Dollar werden ihm dafür bewilligt; das ist so wenig, dass damit noch nicht einmal Starttests realisiert werden könnten.

Das SATURN-Projekt droht zu kippen, bevor es überhaupt in die Gänge gekommen ist.
Erst nach Gründung der NASA bessert sich die Lage.
Am 1. Juli 1960 übernimmt die NASA das SATURN-Programm und ... nun werden 240 Millionen Dollar bereitgestellt.


Ein nützlicher Fakt dabei ist sicher auch die damals
anstehende Wahl des neuen US-Präsidenten gewesen

Zum ersten Mal hat damit das v. Braunsche Team genügend Mittel für ein ansehnliches Raumfahrtprojekt zur Verfügung. Und zum ersten Mal kann v. Braun ein Ziel verfolgen, dass ausschließlich friedlichen Zwecken dient!

Für das Huntsviller Team ist es das Nachfolgeprojekt der JUPITER C-Rakete, daher auch der Name "SATURN": er ist nach Jupiter der nächste Planet in unserem Sonnensystem. In den folgenden Jahren entstehen unter v. Brauns Regie die Trägerraketen SATURN I, SATURN I-B und SATURN V.
Die ersten beiden gelten als Vorläufer der eigentlichen Mondrakete SATURN V, auch wenn die I-B in der Zukunft intensiv für bemannte Raumflüge eingesetzt werden wird, so u.a. für die APOLLO-Probeflüge oder die Beförderung der SKYLAB-Crews zu ihrem Labor.

Abb.9-5

Skizze einer SATURN I

  Abb.9-6

SATURN 1
beim Start von Kap Kennedy/Florida

Abb. 9-5  Saturn I Technische Details:
Gewicht: 580 t Länge: 55,20 m
Max. Durchm.: 6,60 m Startschub: 7730 kN
Nutzlast: 15,4 t Stufen: 2
Vakuumschub 2.Stufe: 408 kN

SATURN I

Bis zur guten alten V 2 lässt sich die Ahnenreihe der SATURN-Familie zurückverfolgen. Denn prinzipiell sind die von der Firma ROCKETDYNE entwickelten Triebwerke der ersten Stufe verbesserte und vereinfachte Weiterentwicklungen der Peenemünder Modelle.

Eine natürliche Entwicklung, die sich von der V 2 über die REDSTONE zur SATURN vollzieht. Bei der REDSTONE sind noch 75%-iger Alkohol und flüssiger Sauerstoff als Brennstoffe verwendet worden, und noch sind die Brennkammern doppelwandig gewesen.

Beim folgenden Triebwerksmodell S3, das in den Raketenserien JUPITER, THOR und ATLAS benutzt wird, ist der Alkohol durch Kerosin ersetzt worden.
Die doppelwandigen Brennkammern müssen einem "Makkaroni"-Modell weichen und die äußeren vier von ihnen sind nun schwenkbar aufgehängt; damit sind Richtungsänderungen der Rakete möglich geworden.
Für die SATURN-Serie erfährt das S 3-Triebwerk noch einige Änderungen, heißt nun H 1 und kann einen Schub von je 966 kN erzeugen.
966 mal 8 ergibt stolze 7120 kN Schubkraft für die erste Stufe!

Auch die zweite Stufe kann sich sehen lassen:
Sechs J 2-Triebwerke des bewährten Typs CENTAUR mit je 68 kN Schub sind zu einem Block zusammengefasst und werden mit den hochenergetischen Brennstoffen Wasserstoff und Sauerstoff in flüssiger Form betrieben.

Damit ist die SATURN I viermal schwerer und viermal schubkräftiger als die größten Raketen, die man in den USA gebaut hat
– und sie ist deutlich größer: um ein Drittel!
Ein kleiner Riese ist da entstanden, dem bald ein Gigant folgen soll ...

1961 weist die NASA der SATURN I bzw. I-B die Aufgabe zu, der Testträger für ein neues dreisitziges Raumschiff zu werden: APOLLO.
Zehnmal wird SATURN I zwischen Oktober 1961 und Juli 1965 ins All fliegen, mit einer hundertprozentigen Erfolgsquote.
Was will man mehr in einer Testphase erreichen!
Bei den ersten vier Flügen ist die Zweitstufe nur eine Attrappe, spätere Raketen führen als Nutzlast APOLLO-Kapsel-Modelle mit sich, die sog. "Boilerplates". Die letzten drei bringen PEGASUS-Satelliten in Erdumlaufbahnen.


SATURN I-B:


...ist eine verbesserte, hochgezüchtete Version des Vorgängermodells.


Abb. 9-7

Skizze einer SATURN I-B

Technische Details:


Abb. 9-8

Start einer SATURN I-B

Abb. 9-8  SATURN I-B Gewicht: 590 t Länge: 51 m Abb. 9-8  SATURN I-B ist gestartet
Max. Durchmesser: 6,60 m Startschub: 8400 kN
Nutzlast: 18,6 t Stufen: 2
Treibstoff:
1.Stufe: Kerosin/O2
2. Stufe: H2/O2
Vakuumschub 2.Stufe:
1000 kN
Erster Start: 26.2. 1966 Letzter Start: 15. Juli 1975
100%-ige Erfolgsrate  


Die Schubkraft der H1-Triebwerke ist auf 1050 kN erhöht worden, die Zweitstufe hingegen eine völlige Neuentwicklung:
Die sechs Triebwerke der zweiten Stufe sind durch einen einzigen J 2-Motor mit ca. 1000 kN (!) ersetzt.

Nur vierzig Monate sind seit ihrer Bewilligung vergangen, da erfolgt am 25. Oktober 1966 – wir greifen dem Ablauf der Ereignisse nun weit vor – der Erststart einer SATURN I-B von Kap Kennedy.
Neunmal wird sie insgesamt in der Entwicklungsphase des APOLLO-Programms gestartet, der erste bemannte wird als APOLLO 7 im Herbst 1968 stattfinden.
Inzwischen hat die NASA nämlich den Auftrag erhalten, die APOLLO-Raumschiffe nicht nur in eine Erdumlaufbahn zu bringen, sondern für Flüge bis zum Mond auszulegen.

???
Für Expeditionen zum Mond braucht man entweder zwei getrennte Zündvorgänge der zweiten Stufe ... oder eine dritte Stufe!
Wernher v. Braun denkt sofort daran, die leistungsstarke Zweitstufe der SATURN I-B als Drittstufe der noch zu bauenden Mondrakete SATURN V zu verwenden.

Denn ein Entwicklungsprogramm für die SATURN V als "Mond"rakete ist am 25. Januar 1962 von der NASA bewilligt worden, mit höchster Priorität. Man spürt den Einfluss des neuen raumfahrtbegeisterten Präsidenten John F. Kennedy.
Und während die SATURN I-B ihre ersten Probestarts absolviert, stehen in Huntsville Triebwerke von einer Schubkraft auf dem Prüfstand, von der Jahre zuvor die Wissenschaftler und Techniker nur zu träumen gewagt haben ...


Inhalt

Letztes Update dieser Seite am 04.04.2004

Kapitel 9

Neue Trägerraketen: NOSITEL und SATURN