"Was wir bis jetzt erreicht haben,
sollte die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit lenken,
dass wir noch weit mehr tun müssen!
Wir haben jetzt den Beweis, dass wir imstande sind,
die Raumfahrttechnologie zum direkten,
unverminderten Nutzen der Erde zu verwenden
- die Raumfahrt also in den Dienst der Erde,
der Ökologie und der Energie zu stellen,
wenn du willst ..."

Wernher von Braun im Gespräch mit Erik Bergaust, 1973


Auch das sowjetische Mondprogramm läuft langsam aus ...

Chefkonstrukteur Wassili Mischin will die Zeichen der Zeit dagegen noch nicht erkennen; er setzt weiterhin auf Flüge mit N1-Raketen.
Das Jahr 1973 wird vollständig genutzt, um den fehleranfälligen Triebwerkskomplex der ersten Stufe zu überarbeiten.
Ihr Erfinder, Nikolai Kusnezow entwickelt eine neue modernisierte Serie NK-33/NK-43/NK-39/NK-31, die auch für die MOK-Variante der N1 Verwendung finden soll.


Daneben steht das Jahr 1973 im Zeichen der erfolgreichen Ye-8-Mondsondenflüge LUNA 21 (mit LUNOCHOD-Mondrover) und LUNA 22, über die in Kapitel 26 berichtet worden ist.


Zu Anfang des Jahres 1974 vermelden westliche Beobachter auffällige Betriebsamkeit am Kosmodrom in Baikonur. Gleich mehrere der "Weißen Riesen" seien auf dem Abschusskomplex bewegt und auf beiden Abschussrampen aufgerichtet worden.

Sind das wiederum lediglich Gerüchte, die gezielt von den amerikanischen Raketenleuten in die Welt gesetzt werden, um das Weiße Haus zum Einlenken zu bewegen ...
nur um weitere Forschungsgelder bewilligt zu bekommen?
Nein!
Die Beobachtungen entsprechen den Tatsachen:

Tatsächlich sind beide N1-Abschussrampen

betriebsbereit, tatsächlich ist die Restaurierung von Komplex Ost endlich beendet.
Tatsächlich gibt es sechs weitere N1-Booster, von denen zumindest die Modelle 8L und 9L sofort einsatzfähig wären.
Der Start von N1-8L ist für August vorgesehen, der von N1-9L wenig später.
Die Missionen sollen jeweils einen unbemannten L3-Komplex zum Mond senden, die Mondfähre soll dort landen.

Mischin hat aus dem bemannten L3-Mondlandeprogramm nun ein unbemanntes Konzept gemacht.

Die Ingenieure behaupten kühn, ab 1976 sei die N1-Trägerrakete zuverlässig.
Wenn die 8L- und 9L-Flüge ohne Probleme verlaufen würden, dann wird mit Flug N1-10L der erste sowjetische Kosmonaut auf dem Mond landen!
Mindestens 4-5 weitere Folgeflüge zum Mond sind dann eingeplant.


Es sollte nicht mehr dazu kommen ...

... denn Wassili Mischin hat bei den Oberen verspielt.

Als er mit seinem Partner Nikolai Kusnetzow Präsident Breschnew einen detaillierten Report vorlegt, in dem er sich über die permanenten Verzögerungen in der Entwicklung der sowjetischen Raumfahrttechnologie beklagt und gleichzeitig die Vision eines MOK-Komplexes von Raumstationen vorstellt, ist die Geduld der Oberen am Ende.
Wassili Mischin wird als Chefkonstrukteur im Mai 1974 abgesetzt.

An seine Stelle tritt ein Mann, den Leonid Breschnew schon lange für diesen Posten im Auge hatte und der uns als Rivale Sergej Koroljows bekannt geworden ist:

Walentin Gluschko wird der neue Chefkonstrukteur der sowjetischen Raumfahrt, er ist nun der Chef des legendären Planungsbüros OKB-1!

Gluschko scheint kein Mann langer Reden gewesen zu sein, denn er macht sofort Nägel mit Köpfen:
Er vereinigt sein altes Planungsamt OKB-456 mit OKB-1 und weiteren Konstruktionsbüros in der neuen Organisation:

N P O

Innerhalb weniger Tage streicht er nicht nur die beiden, für dieses Jahr geplanten N1-Flüge, sondern gleich das komplette Mondprogramm Mischins.

Denn Gluschko hat seine eigenen Pläne für eine lunare Kolonie.



Von 1974 bis '76 arbeitet er an einer neuen Schwerlast-Rakete, der VULKAN.

 

Inzwischen hat er sich betreffs der Wahl des besten Treibstoffes eines Besseren belehren lassen, denn die VULKAN soll mit flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff betrieben werden.

Abb. 29-1

VULKAN -Trägerrakete


hier im Entwurf,

jedoch nie realisiert


Die Außenbooster - Anordnung
übernimmt Gluschko für
die ENERGIA - Rakete.

Abb. 29-1   Entwurf einer VULKAN-Trägerrakete


Auch einen neuen großen - nuklearbetriebenen - Mondrover, mit dem Kosmonauten weite Strecken auf der Mondoberfläche zurücklegen können, stellt er Mstislav Keldysch, dem Leiter der Akademie der Wissenschaften, vor.
Doch der weist die Entwürfe als vorschnell und zu aufwendig ab.
Weder die Regierung noch das Militär sind an Gluschkos Plänen interessiert.
Sie sehen in dem neuen amerikanischen SPACE SHUTTLE-Projekt

eine wesentlich größere (auch militärische) Bedrohung.
Gluschko soll ein vergleichbares sowjetisches Raumfahrzeug konstruieren.



Walentin Gluschko fügt sich.

Die Pläne für die VULKAN-Rakete werden modifiziert.

Herauskommt dabei die schubstärkste Rakete, die die Menscheit bisher entwickelt hat:

ENERGIA

Starts:
bisher 2 - Jungfernflug im Mai 1987,
und der erste und einzige Start des BURAN-Shuttles im November 1988.

Die 4-Booster-Version kann über 100 t Nutzlast in niedrige Erdorbits,
32 t zum Mond oder 27 t zum Mars schicken;
mit 6 oder 8 Boostern natürlich noch schwerere Nutzlasten.


Abb. 29-2

ENERGIA
die schubstärkste Trägerrakete der Welt

Abb. 29-2   ENERGIA - die schubstärkste Trägerrakete der Welt


Technische Daten:

Gewicht:
2420 t
Länge:
81m
Max. Durchm.:
16 m
(miteingerechnet die seitlichen Strap-On-Booster)
Strap-On-Booster:
2, 4, 6 od. 8
Stufenzahl: 2 Startschub:
34.840 kN
(Saturn V: 34.000 kN,
Space Shuttle: 28.590 kN)


Auch der sowjetische Shuttle wird realisiert:

BURAN

fliegt im Jahre 1989 das erste und einzige Mal, erfolgreich übrigens!

Seiner weiteren Entwicklung steht tragischerweise der unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch der Sowjetunion im Wege.



BURAN - der sowjetische Shuttle


Abb. 29-3

BURAN auf
ENERGIA

beim Transport zur Startrampe

Abb. 29-3 BURAN auf ENERGIA-Trägerrakete beim Transport zur Startrampe

 Technische Daten:

Gewicht: 135 t,
davon 21,6 t Brennstoff
Länge: 36,40 m
Flügelspannweite:
24 m
Rumpfdurchmesser:
5,60 m
Besatzung:
10 Astronauten
Cockpitvol.: 73 m³
Abb. 29-4

BURANauf
ENERGIA
vor dem Start

Abb. 29-4 BURAN auf ENERGIA-Trägerrakete vor dem Start Nutzlast: 27-30 t,
je nach Höhe des Orbits

Laderaum:

Länge: 18,30 m
Durchmesser: 4,70 m

Abb. 29-5
landender
BURAN-Shuttle
Abb. 29-5  BURAN-Shuttle landet

(damit größer als eine SALJUT-Raumstation!)

 

(weitere Informationen - ext. Link)



Und was geschieht mit den verbliebenen N1-Trägerraketen,
möchte der Leser noch wissen?

Sie erleiden ein unrühmliches Schicksal und verschwinden in der Versenkung, so als ob es das 2,4 Milliarden Rubel schwere NOSITEL-Trägerraketenprogramm

nie gegeben hätte:

Man nimmt die fertigen (bzw. unfertigen) sechs Raketen 1975 komplett auseinander und verschrottet sie meistenteils.
Einzelne Teile findet man heute in Baikonur als Hallenwände oder Sonnenschutzblenden wieder.
Die 150 Triebwerke der Serien NK-31, NK-33, NK-39 und NK-43 dagegen werden heimlich, entgegen Gluschkos Order, beiseite geschafft und gelagert.
Vermutlich hat ihr Konstrukteur selbst, Kusnezow, dafür gesorgt.
Nach Gluschkos Tod (1989) sind sie 1996 an zwei amerikanische Gesellschaften verkauft worden; eine davon ist KISTLER AEROSPACE.
Dort arbeitet man an der ersten Stufe eines wiederverwendbaren Raumschiffes ...
bis heute!


Was für eine Ironie des Schicksals wäre es,
würde ein amerikanisches Raumfahrzeug mit Maschinen angetrieben,
die zu dem Zwecke gebaut worden sind,
die USA im Wettlauf zum Mond zu schlagen!!!
Und was für ein Zeichen,
wie sich die politische Wetterlage in den
vergangenen 30 Jahren geändert hat!

 



Die noch existierenden vier LK-Mondlandefähren und das eine SOJUS-LOK-Raumschiff finden ihre Ruheplätze in Museen bzw. Raumfahrtsinstituten.
Die beiden wiederhergestellten N1-Abschussrampen rüstet Gluschko in den folgenden Jahren für seine neuen Schwerlast-Trägerraketenprojekte VULKAN bzw. ENERGIA um.

Und der alte Chefkonstrukteur?

Wassili Mischin erhält 1990 einen Lehrauftrag am Moskauer Institut für Luft- und Triebwerkstechnik.
Nach Glasnost und dem Tod von Walentin Gluschko ist für ihn 1989 der Weg in den Westen frei.
Dort erzählt er in seinem Buch "Warum wir nicht zum Mond flogen" eine Geschichte, die interessierte Hörer in der ganzen Welt gefunden hat:

 

Die Geschichte eines verlorenen Traumes


 


Am Ende des Buches schreibt Mischin:

"Meine Leser sollen nicht den Eindruck bekommen, ich würde die Verantwortung als Chefkonstrukteur für all die Fehler abstreiten, die wir auf dem Weg zum sowjetischen Mondprogramm gemacht haben, auch meine eigenen. Der, der überhaupt nichts macht, macht auch keine Fehler.
Wir, die Nachfolger von Sergej Koroljow, haben alles Erdenkliche getan, was wir tun konnten ... aber es war nicht genug."

Wassili Mischin stirbt im betagten Alter von 84 Jahren am 10. Oktober 2001 in Moskau.


Inhalt

Letztes Update dieser Seite am 04.04.2004

Kapitel 29

Beide Mondprogramme laufen aus ...